Das Gespenst im Tiefkühlfach
von Sieglinde Breitschwerdt
Aufgeregt
schwebt Olli auf den Burgzinnen hin und her. Er hält Ausschau nach seinen
Gästen. Schlag zwölf wird Olli 100 Jahre alt - für ein Gespenst überhaupt kein
Alter, aber ein besonderes. Plötzlich grollen Donner in der Ferne. Blitze
zucken über den nachtschwarzen Himmel. Der Wind heult wie ein hungriger Wolf
und prasselnder Regen setzt ein. Rasch bringt sich Olli in Sicherheit, denn ein
heftiger Wind ist für ein luftiges Gespenst sehr gefährlich. Er kann es einfach
hinwegfegen.
Die
Zeit vergeht. Das Gespenst wird sehr traurig. Es ahnt, dass heute keiner zu
seiner Geburtstagsparty kommt - Dodo, die Hexe, würde der Wind vom Besen fegen,
und Otto, der Vampir, mit dem Flugcape abtreiben.
Die
Kirchturmuhr schlägt Mitternacht. Olli heult schaurig auf, rasselt mit seiner
rostigen Kette und rutscht das Treppengeländer herunter. Die Geisterstunde ist
heute Nacht sooo langweilig. Keiner hat Angst. Nicht mal Hildegard, die
Fledermaus, ist von ihm beeindruckt. Das Gewitter zieht weiter und mit ihm die
Blitze, der Wind und der Regen. Nicht mal Blumen hab' ich gekriegt, denkt Olli
traurig. Er schwebt in den Burggarten und pflückt ein paar Disteln.
"Glückwunsch,
Olli", murmelt er und entdeckt in der Ferne ein Haus. Im fahlen Licht des
Mondes sieht es sogar unheimlich aus. Neugierig schwebt Olli näher. Ein Fenster
ist nur angelehnt. Aber für ein Gespenst ist das kein Problem. Es macht sich
ganz lang und dünn und flutscht durch die Ritze. Staunend sieht Olli den Herd,
den Toaster, die Kaffeemaschine und einen großen weißen Schrank. Neugierig
zieht er seine alte, magische Kette aus dem Gewand. Jedesmal wenn er damit
rasselt, öffnen sich alles, was verschlossen ist. Und wirklich, die weiße
Schranktür springt auf. Gleißendes Licht flutet über Wurst und Käse, Milch und
Eier, Schinken und Speck. Aber oben ist noch eine große Klappe. Neugierig
rasselt Olli noch einmal. Sofort springt die Klappe auf. "Huihuihui",
jubelt das Gespenst, als es eine riesige Sahnetorte sieht. "Eine
Geburtstagstorte!"
Olli
macht sich klein und dünn und setzt sich mitten auf die Torte.
"Brrh,
ist das kalt", murmelt er. Plötzlich ist es dunkel. Die Klappe ist
zugefallen.
"Hiiilfe!",
ruft Olli. Aber niemand hört ihn. Er zittert und wird ganz steif. Nicht einmal
mit Naschen kann er sich die Zeit vertreiben. Sein luftiges Fingerchen ist auf
dem Sahnehäubchen angefroren. Die rostige Kette, die ihm sonst jede Tür öffnet,
kann er nicht anrühren. Olli wird angst und bange. So etwas Gruseliges hat er
noch nie erlebt.
Erst nach vielen Stunden hörte er Schritte.
"Mama", hörte er eine Mädchenstimme, "Wo ist
denn meine Geburtstagstorte?"
"Im Tiefkühlfach, Anna. Stell sie auf den Tisch. Sie
muss noch auftauen", antwortet eine Frauenstimme.
Anna stellt die Torte auf die Anrichte. Fassungslos starrt
sie auf ein kleines, eisbestäubtes Wesen, dessen Fingerchen an einem
Sahnehäubchen festgefroren ist.
"Wer bist du und wie kommst du denn ins Tiefkühlfach?",
fragt Anna neugierig. Olli kann sich nicht bewegen. Aber in seinen Augen
glitzern Tränchen.
"Du brauchst keine Angst zu haben", sagt Anna und
setzt sich auf den Küchenstuhl. "Ich tu' dir nix. Ehrenwort!"
Ollis Großmama, die alte Gespensterdame Bertha, hatte immer
gesagt, dass man Menschen nicht trauen soll. Aber Anna hat so ein liebes
Lächeln.
Er nimmt allen Mut zusammen. Während er von seinem traurigen
Geburtstag erzählt, taut er langsam auf.
Plötzlich hören sie Schritte. "Wo kann ich mich
verstecken?", wispert Olli ängstlich.
Anna zeigt auf den Rucksack im Flur. "Da kannst du
bleiben, bis es dunkel wird!", flüstert sie.
Olli ist so müde, dass er sofort einschläft. Er wacht erst
wieder auf, als es von der Kirchturmuhr Mitternacht schlägt. Gähnend flutscht
aus dem Rucksack und schwebt in die Küche. Er erschrickt, als er Anna plötzlich
sieht.
"Alles Gute zum Geburtstag!", flüstert das Mädchen
und zeigt auf einen Teller. "Ich hab' dir ein Stück Torte übrig
gelassen!"
Beinahe hätte Olli schaurig aufgeheult - vor lauter Freude.